Wenn Versprechen einfach vertagt werden

Wieder Schleswig. Wieder der verwesende Tote, wieder eine Sitzung später. Und diesmal: Streit um ein bisschen mehr Personal – als wäre das verlorene Menschenleben nur ein Rechenfehler im Sozialhaushalt, kein Beweis maximalen Systemversagens. Nach all den medienwirksamen Schuldzuweisungen und Betroffenheitsbekundungen steht fest: Die einzige Revolution bleibt vorerst im Anzug der Verwaltung stecken.
Wir haben neulich berichtet: https://compost-magazin.de/2025/07/18/systemische-totenruhe/
Nochmal zur Erinnerung: Ein obdachloser Mann stirbt im Juli 2025 in der Schleswiger Unterkunft. Niemand merkt es – bis der Geruch alles verrät. Stadt und Diakonie schieben sich Verantwortung zu, die restlichen Bewohner*innen dürfen derweil ihr ganz eigenes Trauma-Sightseeing zwischen Behördenbetreuung und Reinigungsfirma durchlaufen. Während die Presse noch von Sofortmaßnahmen und „angekündigter Personalverstärkung“ berichtet, wird schnell klar: Wer hier stirbt, kommt statistisch rasch weggeräumt – das Problem ist ohnehin systemisch und bekannt
Jetzt neu: Der Streit um die 38,5-Stunden-Stelle
Aber halt. Wer dachte, das System hätte seinen Tiefpunkt schon erreicht, wird enttäuscht: Nun gibt’s Krach um den Umgang mit dem Desaster. Die Stadtspitze legt eine Beschlussvorlage vor – 38,5 Wochenstunden für Betreuungskräfte, ein bitteres Minimum als Reaktion auf einen maximalen Skandal. Doch was passiert? Teile des Sozialausschusses wollten mehr, die grüne Stadträtin votiert letztlich für das Minimalmodell! Große Rhetorik, kleiner Mut – Hauptsache, es bleibt im Rahmen des Gewohnten und niemand muss wirklich Verantwortung übernehmen oder das Gesamtprinzip neu denken.
Und man glaubt es kaum: Sogar jetzt, nach all den langen Debatten, nach Presseempörung, Toten und öffentlichen Krokodilstränen, schaffen es CDU, Grüne und SSW im Rat, die dringend notwendige zusätzliche Personalstelle nochmal geschickt zu vertagen – angeblich, weil das Verfahren nicht ganz so „ordnungsgemäß“ abgelaufen sei. Ein bürokratischer Taschenspielertrick, der die Verwaltung buchstäblich wichtiger nimmt als das Menschenleben, das hier zur Debatte steht. Während die Verantwortlichen sich auf Formalien ausruhen und das Elend weiterverwalten, stirbt die Fürsorge endgültig am Paragraphenstrang. Wer derart zimperlich mit Anträgen umgeht, zeigt, dass im Zweifel lieber Papier geordnet als Verantwortung übernommen wird – solange alles seine richtige Form hat, darf das Versagen weiter den Gang zum nächsten Todesfall antreten.
Offene Kritik? Sie kommt von Sozialarbeiter*innen und Expert*innen, die zurecht fordern: Wer nach so einem Todesfall noch um jede einzelne Personalstelle feilscht, verwechselt Menschenwürde mit Bürokratie und Ethik mit Haushaltsführung.
Diakonie, Verwaltung und das Ritual der Schuldverwischung
Die Diakonie betont, wie überfordert sie mit der bestehenden Personaldichte ist – sagt aber auch, dass regelmäßige Hausbesuche und echte Betreuung schlicht nicht erfolgen konnten. Der Sozialausschuss selbt zerfleischt sich zwischen „es braucht Mindeststandards!“ und der politischen Realitätsverweigerung. Am Ende steht, dass der Skandal weniger gelöst als weiterverstellt wurde: Ein bisschen mehr Kontrolle, ein bisschen mehr Doku, viel zu wenig Konsequenz.
Grüne Hoffnungen? Eher grünlich-grauer Alltag
Und die viel zitierte progressive Hoffnung? Bleibt sang- und klanglos im Abnicken der Minimalpersonalausstattung stecken. Mehr Kontrollen, mehr Protokolle und am Ende immer wieder der Satz: „Wir prüfen…“ – gemeint ist offensichtlich „bis es sich ausgesessen hat“. Wer, wie die grüne Vertreterin, jetzt von „notwendigen Schritten“ redet, macht sich zur Stichwortgeber*in der bundesweit praktizierten Verwalterträgheit. Wer Menschenrechte wirklich ernst nimmt, stimmt anders – und kämpft für radikalen Systemumbau: menschenwürdige Betreuung, bundesweite Mindeststandards, echte Verantwortung. Stattdessen gibt’s: Weiter so.
Fazit: Weiterverwalten bis zum nächsten Todesfall
Solange verwesende Tote in Hilfseinrichtungen Anlass für Streit um Stellen statt Umsturz im System geben, bleibt alles beim alten. Mit grünem Label drauf – und fertig ist die nächste Runde der gepflegten Verantwortungslosigkeit. Schleswig bleibt damit ein bitteres Paradebeispiel für bundesdeutsche Sozialfrisurenpolitik: „Wir haben da was getan!“
Aber in Wirklichkeit bleibt alles wie gehabt – nur das Protokoll wird länger.